Ausgabe 4/2023 |
Abseits - und doch mitten drin im Quartier |
Quartierführungen, bei denen hilfreiche Anlaufstellen und die Lebensgeschichte der Guides die Tour bestimmen.
von Arnhild Rasilier-Walz, Redaktion
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Luzern und seine Quartiere aus einem anderem Blickwinkel
Kappelbrücke, KKL, Löwendenkmal, Dampfschiffe, Vierwaldstätter See – Luzern wird mit vielen Sehenswürdigkeiten in Verbindung gebracht. Wie sieht es jedoch mit wichtigen Anlaufstellen in unserem Quartier aus?
Marco Müller gründete 2016 den Verein «Abseits Luzern» und startete 2017 eine andere Stadt- oder eher Quartierführung, um Interessierten die weniger bekannten Seiten Luzerns zu zeigen. Aktuell gibt es diese Touren in den Quartieren Tribschen, Bruchquartier, Neustadt und Obergrund. Das Besondere: Die Tour Guides waren einst selbst am Rande der Gesellschaft und stellen den Teilnehmenden soziale Institutionen vor, die in den Quartieren entscheidende Unterstützung leisten. Einer dieser Guides, die auch ihre eigene Lebensgeschichte mitteilen, ist Pit, mit dem ich im Tribschen Quartier auf Tour gehen durfte.
Mit Pit durch das Tribschen-Quartier
Es ist diese lockere und dennoch professionelle Art, die mich vom ersten Augen-blick beeindruckt. Er sei nervös, dass eine Redaktionstante dabei ist aber nach Rücksprache mit seinen Kollegen sei das OK, auch das ich von ihm ein Foto mache. Er sei nun schon so oft fotografiert worden. Als langjährige Bewohnerin des Tribschen Quartiers bin ich gespannt, wohin er uns führt und überrascht, dass ich die einzige Teilnehmerin aus dem Quartier bin. Bevor es losgeht, telefoniert Pit alle fehlenden Anmeldungen ab und versichert sich, dass wir niemanden zurücklassen.
Einige Teilnehmer waren bereits an anderen Quartierführungen dabei, gehören zu den «Wiederholungstätern». Es sei eine neue Tour, die sehr beliebt sei und er habe sie schon 40-mal gemacht. Diese Routine lässt auch seine Nervosität schwinden und seine Freude an der Kommunikation und dem Vermitteln des erworbenen Wissens in den Vordergrund treten. Die Teilnahmegebühr von CHF 30 pro Person möchte er erst zum Ende der Tour kassieren, wenn sie uns gefallen hat.
Station 1: IG Arbeit - eine Empfehlung
Von der Bushaltestelle Werkhofstrasse geht es im Stechschritt zur IG Arbeit an der Unterlachenstrasse 9. Dort eröffnet uns Pit, dass er trockener Alkoholiker sei und der Weg in die Sucht bereits mit Trinktouren im jugendlichen Alter begann. Er selbst war zwei Jahre bei der IG Arbeit beschäftigt. Hier steht nicht der Lohn, sondern die Integration im Vordergrund. Pit ermutigt seine Gäste, von der IG Arbeit angebotene Dienstleistungen, sei es aus der Schneiderei, der Schreinerei, dem Souvenirshop, Hilfe beim Umzug oder beim Putzen, in Anspruch zu nehmen. Die Leute seien motiviert und leisteten gute Arbeit.
Station 2: GasseChuchi - aus Entfernung
Pit legt Wert darauf, dass er selbst nie in der aus der Ferne vorgestellten GasseChuchi am Geissensteinring 24 war. Dazu müsse man sich registrieren, da die Mittagessen, einmal die Woche ein Arzt und zwei Mal im Monat ein Coiffeur subventioniert werden. Auch gibt es einen Ruheraum und die «Randständigen» werden medizinisch überwacht. Die Seitengasse vor der GasseChuchi ist eine Grauzone, in der Drogen konsumiert werden, ebenso wie an den Hotspots Inseli, Vögeligärtli oder der Kante B am Bahnhof. Da es öfter Tumulte gibt, hat die GasseChuchi eigenes Sicherheitspersonal und bei Bedarf kommt Polizei in Zivil dazu. Ein grosses Problem sei, dass die GasseChuchi bereits um 17 Uhr schliesst, die Notschlafstätte aber erst um 20 Uhr, April bis September erst um 21 Uhr aufmacht. Neben den vielen Informationen erfahren wir auch von Pits zunächst vielversprechendem beruflichen Lebenslauf, bei dem er sich in Zürich vom Kellner zum Chef de Service hochgearbeitet hatte, heiratete, zwei wunderbare Kinder bekam aber seine Familie bei all der Arbeit kaum sah. Dafür jedoch an der Quelle war und immer mehr Alkohol konsumierte.
«Verurteilt die Menschen nicht, wünscht ihnen einen schönen Tag oder einen schönen Abend – das allein ist eine Wohltat.»
Diesen Rat gibt uns Pit als er berichtet, wie unsicher viele Passanten den bettelnden Abhängigen begegnen. Jeder möge selbst entscheiden, ob etwas gegeben wird oder nicht, das sei OK. Wir müssten uns nur im Klaren sein, dass die Sucht immer stärker sei und auch gekaufte Lebensmittel oder Gutscheine sofort in Suchtmittel umgemünzt werden.
Station 3: Traversa – aktives Tageszentrum
Bevor Pit uns über die vielfältigen Ange-bote dieses Netzwerks für psychisch kranke Menschen informiert, erzählt er von sich. Er zog nach Kriens, um mehr Zeit mit seiner Familie verbringen zu können und Distanz zu seinen Suchtmitteln zu finden. Er wollte als Berufschauffeur neu starten. Die Arbeitszeiten waren jedoch auch nicht familienfreundlich und die Ehe ging in die Brüche. Er zog, wie gefordert, aus und das Unheil nahm seinen Lauf.
«Es geht immer darum, selbst Hilfe zu holen und auch Hilfe zu bekommen. »
Pit weist bei Traversa auf das an der Eingangstür ausgehängte Programm hin mit den diversen Kursen, gemeinsamem Kochen bis hin zu gemeinsamen Ferien. Es gebe eigene WGs und auch «normale» Menschen in Krisensituationen könnten hier Hilfe finden.
Station 4: IV Luzern - Eingliederung vor Rente
Es sei «bombastisch» was hier an der Landenbergstrasse 35 geleistet werde, um Arbeitsplätze zu erhalten und Menschen je nach persönlicher Fähigkeit möglichst schnell in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Mit dem Verlust der Familie habe sich seine Sucht dramatisch verschlimmert. Er sei in einer WG völlig abgestürzt, habe aufgrund seines Alkoholproblems seine Arbeit als Berufschauffeur verloren und war angesichts seiner körperlichen Verfassung laut RAV nicht vermittelbar, womit er beim Sozialamt landete.
«Seid achtsam und geht sorgfältig durch das Leben. Schaut in den Spiegel und entscheidet für euch. Alles andere wird nicht gelingen.»
Es sind immer wieder erworbene Lebensweisheiten, die Pit ohne Fingerzeig aber voller Überzeugung einflechtet. Er habe der Sucht nun schon seit mehr als zwei Jahren standgehalten, weil er es für sich wolle; nicht für seine Mutter, seine Frau oder seine Kinder. Sonst wäre er inzwischen beim «Chef» und schaut zum Himmel. Nach der unbarmherzigen viermonatigen Entwöhnung seien nur er und ein Kumpel aus der Gruppe nicht rückfällig geworden.
Station 5: Wärchbrogg – Brücke zur Arbeitswelt
Letzte Station der Tour ist die Wärchbrogg am Alpenquai 4, nachhaltiger Einkaufsladen und Restaurant mit regionaler Küche. Angesichts der späten Abendstunde sind beide bereits geschlossen aber die Tische vor dem Restaurant bieten Gelegenheit, etwas über diese Schnittstelle für Menschen mit vorwiegend psychischen Beeinträchtigungen auf dem Weg ins Arbeitsleben zu erfahren. Wer hier arbeitet, muss mindestens ein 50% Pensum leisten und dass sie gern schaffen, davon kann man sich bei jedem Besuch überzeugen. Pits Einkaufstipp ist Brot aus der Bio-Holzofenbäckerei 3Punkt an der Tribschenstrasse 104. Über diese Stiftung müsse ich unbedingt auch schreiben.
«Über 1'100 Stadtführungen mit zirka 15'000 Gästen »
Diese beeindruckende Statistik erhalte ich vom Verein «Abseits Luzern», der sich über Spenden und zahlende Gäste finanziert. Die Guides erhalten pro Tour eine Entschädigung und Spesen. Diese Touren werden öffentlich aber auch für geschlossene Gruppen von maximal 20 Gästen angeboten und gehen ca. 2 Stunden. Meist kommen die Teilnehmer durch Mund zu Mund Empfehlung oder sind bei der Internetrecherche auf die Tour aufmerksam geworden. Neben den finanziellen Engpässen ist es vor allem eine grosse Herausforderung, passende Guides zu finden und zu halten.
Ich habe bei der Tour nicht nur viel über die Institutionen in unserer Nachbarschaft gelernt, sondern bin auch von unserem Guide Pit beeindruckt. Er lebt inzwischen in einer eigenen Wohnung, betreut zwei alte Damen, ist Teil einer Selbsthilfegruppe und hat über 250 Touren absolviert. Ich wünsche ihm, dass er sein Leben weiter so überzeugt meistert